Auf den ersten Seiten rosten die Buchstaben der Geschichte
»Wir stecken alle voll mit stark befahrenen Schienenwegen und stillgelegten Gleisen, mit erträumten Reiserouten und täglichen Fahrplänen. Irgendwo findet sich ein Bahnhof, unser ersehnter Ankunftsort. In unseren Träumen warten wir auf Bahnsteigen, verpassen Züge, müssen umsteigen und kommen doch ans Ziel. Eisenbahn: ein Thema zu dem die meisten Menschen eigene Bilder und Erinnerungen besitzen. – Der Text entstand während einer dreistündigen Zugfahrt von Cottbus nach Wriezen. Unterwegs verfasst, beschreibt es eine Geschichte aus der Sicht des Bleibenden. Der Landstrich Oderbruch, in dem Alexander Scholz geboren wurde und aufwuchs, prägte den Autor und Fotografen, der auch alle Fotomotive entlang den Gleisen im Oderbruch fand. Auch der Moment, in dem die Geschichte aus der romantischen Verzückung zwischen Bewahrung und Verfall gerissen wird, weil plötzlich neben dem Bahndamm ein Massengrab aus dem letzten Krieg auftaucht, kann so wohl nur in der Gegend hinter der Oder stattfinden. Dort, wo die Dämme noch die Toten und die Munitionsreste der letzten militärischen Offensive von 1945 bergen. (…)
Der Mann der Geschichte arbeitet gegen den Zahn der Zeit. (...) Und am Ende der Geschichte steht eine Frau allein, in Uniform, die Ansagerin des Bahnhofs, an deren Strecke der Mann wohnt, auf dem Bahnsteig. Alle anderen Gäste und Passagiere trieben der Krieg und die Flüchtigkeit der Erinnerung davon.«
Märkischer Sonntag, 26.01.03
»(...) In dieser Art mit typografischer Umsetzung liegt wohl auch das Interesse am schriftgewordenen Bild des Kratzens am Rost. Um das Bearbeiten des Alten, fast Vergessenen, um das Wiederentdecken, wenn man sich nur lange genug damit beschäftigt, wenn man die Oberfläche abkratzt und auf den Grund vorstößt. (…)«
MOZ, 11. Februar 2003
»Ein Titel, der ebenfalls für kontroverse Diskussionen sorgte, war der vom Designbüro die Typonauten gestaltete Band „Eisenbahn“. Ein auffälliges Merkmal: Die erste Seite des Textes taucht fünfmal hintereinander auf – zuerst ist die Schrift so unscharf, dass man sie gar nicht lesen kann, dann wird sie von Seite zu Seite deutlicher. „Die einen hielten das für zu verspielt, ..., die anderen fanden gerade dieses spielerische Element genial.«
PAGE, Hamburg, 03.2003
»Die ersten Seiten sind schlecht lesbar und wiederholen sich, langsam formen sich die Buchstaben. Wie das ferne Geräusch eines herannahenden Zuges, der wenig später in voller Präsenz am Beobachter vorbeirauscht – so sind plötzlich die Lettern da. Ein gelungener Einsteig! Das lyrische Ich beschreibt die romantische Sehnsucht an einem Bahndamm zu wohnen, keinem modernen Eisenbahnkreuz, an dem täglich tausende Pendler in Hochgeschwindigkeitszügen vorbeirasen. Nein, etwas viel ursprünglicheres sollte es sein. Ein nostalgisches Häuschen mit rechteckigen Fenstern und tickenden Wanduhren. (...) Auf dem Bahnsteig würden sich herzzerreißende Wiedersehensszenen zwischen Männern und Frauen ereignen, und die Mädchen im Springbrunnen vor dem Haus baden. Doch das heimelige Bild bekommt Risse. (...) Und aus den Jungs, die einst unbeschwert mit den Mädchen umhertollten, sind Männer geworden, die mit den Stahlhelmen im Nacken in den Krieg ziehen. In Zügen, die früher die Familien zu Ausflügen, zu Besuchen brachten. Daraus wurden sinnlose Todestransporte. (...) Die Sehnsucht des Eisenbahners nach ungetrübter Romantik durch Rückzug verfliegt. Die Kunde von Krieg und Leid, die Spuren des Verfalls ziehen bis in die letzten Winkel. (...) Beeindruckend, der absolut gefestigte humanistische Grundton wider den Zynismen und geheucheltem Gutmenschentum. Da kommt etwas tief aus der Seele, das ist Poesie. (...)«
LIBUS, 2003, Berlin