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Ein Fach
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Information
Was bedeutet: es könnte, es wird mit Anne Manzeks Buch schon nach dem ersten Drittel gefährlich. Man ahnt, dass man dem Kreisel der Gedanken nicht so einfach entkommt. Man will es wissen. Die Geschichte, obwohl sie nur aus einfachen Strichen besteht, ist so spannend, dass Sie ahnungslos weiterblättern, ohne zu ahnen, dass der Strudel mit jeder Doppelseite stärker wird.
Das ist auch das Schöne an Büchern. Das Mittel des Blätterns, des Entdeckens des noch nicht Gesehenen oder Gelesenen reizt Anne Manzek geschickt aus. Sie macht das Buch zum Buch, dieses Buch ist kein Instrument, das man benutzt, um darin lange Texte auf folgenden Seiten zu brechen oder Kunst als Reproduktion auf Papier abzubilden.
Ein Fach ist ein Buch, ein echtes Buch. Ein Fach kann nur als Buch funktionieren, nicht als Ausstellung, als Film. Ein Buch-Buch in dem die Kunst zum Original erhoben wird, wie es auch in vielen Büchern, von Hans Ticha zum Beispiel ist, in denen erst durch den sogenannten Flachduck das Original entsteht.
(...)
Ich versuche eine weitere Deutung:
Ein Fach: Ich hatte als Kind ein Fach, es war eine alte Schublade aus der Werkstatt meines Vaters. Er hatte dort viele Fächer, alle aus unterschiedlichen Einrichtungsgegenständen. Ein Fach aus der Küche seiner Mutter, ein Fach aus dem alten Kinderzimmer meines Bruders, ein Fach aus der alten Anrichte des Esszimmers meiner Eltern. Alle Fächer waren voller rostiger Nägel, Scharniere, Schrauben, Handwerkzeuge ohne Holzgriff.
Mein Vater ist ein Kriegskind. Seine Mutter, sein Ausbilder, er selbst sammelte alles. Es wurde nichts weggeworfen. Was mich jedoch immer verwunderte: es gab kein Fach für Schrauben, kein Fach für Nägel und kein Fach für Scharniere und so weiter, es war alles durcheinander. Eines dieser Fächer stahl ich, ich kippte einfach die rostigen Dinge in ein anderes Fach mit rostigen Dingen. Es fiel nie jemandem auf. Ich stahl meinem Vater noch ein anderes Fach, eines das immer leer war, ein kleines Fach mit vielen noch kleineren Fächern. Er benutzte es nicht. Ich habe mich immer gewundert, warum er denn diese Fächer nicht zum Sortieren kleinerer Dinge verwendete.
Ich suchte mir meine beiden Fächer nicht willkürlich aus. Das eine große Fach war wunderbar mit Schwalbenschanzverbindungen zusammengesetzt und das andere Fach mit den vielen Fächern war sowieso unbenutzt. Es hatte aber auch etwas anderes Bezauberndes. An der Front mit einem alten verbrochenen Hartplastikgriff lösten sich die Lackschichten und auch das mehrmals überpinselte Furnier. Das machte dieses Fach zu einem besonderen Fach. Ein Fach das Geschichten von meinen Großeltern und der Kindheit meines Vaters erzählen konnte, ohne das es etwas beherbergte.
In das große Fach legte ich meine Schätze: Muscheln, Steine (einen mit einem versteinerten Regenwurm), eine trockene Schere eines kleinen Krebses, eine Feder eines Perlhuhnes, eine Feder eines Adlers, die auf einem Jägerhochstand fand und die meine erste große Liebe einen Nachmittag lang im Haar trug, ein verrostetes Taschenmesser, einen von einer Eisenbahn breitgefahrenen Pfennig, ein kleines blaues Modellauto, meine alten Zahnbürsten, eine alte Fahrkarte einer schönen Zugfahrt ans Meer und neben all den folgenden Dingen auch einen Hasenschädel, den ich mit meinem besten Freund auf einem Maisfeld gefunden hatte. Dieses Fach funktionierte vielleicht 7 Jahre. Als ich begann, Architektur zu studieren reichte das Fach nicht mehr aus. Aus dem kleinen Fach wurde eine große von mir selbst entworfene Holzkiste und daneben stand aus der alten Werkstatt meines Vaters immer ungenutzt das alte Fach mit den vielen Fächern darin. Aus dem selbstentworfenen Holzfach mit eingelassenem Sperrholzboden, abgeschrägten Seiten und mit Schwalbenschwänzen verzahnten Verbindungen wurden immer mehr Fächer mit CDs, Taschenbüchern, eigenen Zeichnungen und Skizzen und, und, und; bis aus den Fächern ganze Häuser wurden, die ich für meine Bauherren baue und in denen ich versuche, die Bedürfnisse fremder Menschen in Räumlichkeiten zu planen.
Heute weiß ich, was mit dem Fach mit den vielen Fächern auf sich hat. Es ist kindliches Denken, ein Universum, das in eine Hosentasche ohne Fächer ohne Unterteilung passt, eine Universum ohne zeitliche Bezüge ohne Ordnung nach Alphabet, ohne Sortierung nach Farben, Herkunft, Größe, Wert. Was für ein Stichwort: WERT. Passt das Einfache, das Wertvolle in nur ein Fach?
(...)
Heute weiß ich auch, wie schwer es ist, das Einfache und zugleich Richtige zu erreichen. Das Selbstverständliche des ureigenen Bedürfnisses nach einem Marmeladenbrötchen, einer warmen Zuckerwaffel oder einem frisch bezogenen Bett verwäscht. Man ist so sehr vom Überangebot beeindruckt, dass man nicht mehr in der Lage ist, das Wertvolle heraus zu filtern. Und wenn man alles will, dann ist es nicht mehr einfach, sich zu beschränken. Man will alles und verwendet viele Symbole für all das, was man will, nie als Original hatte, um den Hunger zu stillen.
Meistens, und jetzt spricht aus mir ein Mensch, der bewusst handeln möchte, sind all die Wünsche nicht tatsächlich lebenserhaltende Wünsche, und die wenigsten Wünsche sind Urwünsche wie die nach einem sauberen Teller und sauberen Besteck.
(...)
Und trotzdem haben wir mehr Wünsche und unser Bestreben führt dazu, das es alles einfach nicht so einfach ist.
(...)
(Alexander Scholz, aus dem Vorwort)